Vielleicht kennst du das: Der Methodenkoffer ist gut gefüllt. Es gibt Spiele für jedes Wetter, Ideen für jede Altersstufe und inzwischen auch unzählige Sammlungen und Programme. Und doch taucht manchmal dieses leise Gefühl auf ➡️ Irgendetwas fehlt.
Nicht etwas Konkretes, das man benennen oder kaufen könnte. Eher eine Frage, die sich zwischen zwei Waldtagen einschleicht. Eine, die nicht laut ist, aber bleibt.
Was ist es eigentlich, was Waldpädagogik ausmacht: Jenseits von Spielen, Methoden und Programmen?
In diesem Artikel findest du keine Definition, was Waldpädagogik ist oder was der Unterschied zu anderen grünpädagogischen Richtungen ist. Sondern er ist eine Einladung an dich, kurz innezuhalten und deinen Art von Waldpädagogik aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Waldpädagogik soll Gelegenheiten schaffen
Es ist unbestritten: Zu einer guten Waldführung gehört auch eine gute Planung. Ein durchdachter Ablaufplan gibt Sicherheit, Struktur und Orientierung. Gleichzeitig habe ich aber auch die Erfahrung gemacht: Nicht alles, was langfristig wirkt, lässt sich planen.
Es gibt einen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen „Ich plane heute etwas für die Gruppe“ und „Ich gebe der Gruppe heute die Gelegenheit, Natur selbstständig zu entdecken.“
Waldpädagogik bedeutet oft genau das: Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen eigenständige Entdeckungen und Naturerfahrungen im Vordergrund stehen. Nicht jedes Lernen braucht eine Anleitung. Auch im scheinbaren Nichtstun, lernen wir Menschen. Wir beobachten, wir interagieren, wir reflektieren.
Deswegen plane ich auf jeder Führung mit Kindergruppen Zeit für freies Spielen ein. Einerseits können sie sich dadurch austoben, aber sie sammeln auch wertvolle Erfahrungen. Wie fühlt sich der feuchte Waldboden an? Wie riecht er? Warum haben einige Bäume eine glatte und andere eine raue Rinde? Was entsteht, wenn keine vorgefertigten Spielsachen vorhanden sind?
Für all diese Erkenntnisse braucht es keine Anleitung von unserer Seite. Sie entstehen durch die Gelegenheit.
Mit Erwachsenen ist das nur ein klein wenig anders. Der einzige Unterschied ist, dass sie nicht sofort losrennen und selbständig entdecken. Sie brauchen eine klitzekleine Hilfestellung, aber dann erforschen auch Erwachsene plötzlich den Wald – ganz ohne einen Vortrag halten zu müssen.

Der Wald wirkt – auch ohne Programm
Gerade Lehrpersonen oder Einrichtungen tragen oft eine grosse innere Verantwortung, Lehrpläne und Unterrichtsstandards einzuhalten. Dabei wird leicht vergessen, was im Wald sowieso passiert – allein durch die Tatsache, dass du mit den Kindern den Innenraum verlässt und nach draussen gehst.
Ein Aufenthalt im Wald wirkt immer! Nicht erst dann, wenn du ein Spiel anleitest, ein Arbeitsblatt verteilst oder ein Lernziel formulierst.
Kinder bewegen sich im unebenen Gelände, balancieren über Wurzeln, spüren Kälte, Nässe oder Sonne auf der Haut. Sie orientieren sich, nehmen Gerüche wahr, hören Geräusche, die es im Klassenzimmer nicht gibt. Sie handeln sozial: Helfen einander über Gräben, warten auf Langsamere, lösen kleine Konflikte selbstständig.
Kurz gesagt: Sport, Umweltbildung, Resilienz, Sozialkompetenz und noch vieles mehr geschieht ohne Programm.
Der Wald ist kein Ort, wo wir regelmässig für Unterhaltung sorgen müssen. Deine Aufgabe ist es mehr wegzulassen, anstatt mehr hinzuzufügen.
Der Wald aus bildungspolitischer Sicht
Wenn du jetzt beim Lesen festgestellt hast „klingt gut, aber wie soll ich das begründen“, dann sage ich dir, dass das problemlos möglich ist. Lass uns dazu einen Blick auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) werfen
Ein Besuch im Wald:
… wirkt gesundheitsfördernd, ist entspannend und ist echte Mediensuchtprävention, ➡️ BNE Ziel Nr. 3, Gesundheit und Wohlergehen
… stärkt die Beziehung zur belebten Umwelt ➡️ BNE Ziel Nr. 15, Leben an Land
… ermöglicht Lernen durch unmittelbare Erfahrung ➡️ BNE Ziel Nr. 4, Hochwertige Bildung
Der Wald ist kein Klassenzimmer. Und genau darin liegt seine Stärke.
Er ist nicht nur ein hochwertiger, sondern auch ein hochwirksamer Lernort, weil er offen ist. Weil er sich nicht vollständig planen lässt. Weil Wetter, Jahreszeiten und Zufälle mitspielen. Ein plötzlicher Regenschauer, ein umgestürzter Baum, frische Spuren im Schnee – all das eröffnet echte Lernmomente.
Diese Unplanbarkeit ist eine pädagogische Qualität.

Naturbeziehung kommt vor dem Naturwissen
Bereits Johann Heinrich Pestalozzi bemerkte Ende des 18. Jahrhunderts, dass das Lernen uns Menschen einfacher fällt, wenn es ganzheitlich passiert. Daraus entwickelte er das heute sehr bekannte pädagogische Prinzip: Lernen mit Kopf, Herz und Hand.
Das gilt besonders für andere Menschen (ich bin mir sicher, auch du hattest Lehrpersonen in der Schule, bei denen dir das Lernen einfacher fiel, als bei anderen). Aber das gilt auch für die Lernumgebung. Wenn wir uns in einem Raum wohlfühlen, dann fällt es uns leichter, uns auf ein Thema einzulassen, und wir lernen leichter.
Deswegen ist es wichtig, dass eine Gruppe (egal welchen Alters) zuerst im Wald ankommt, bevor Wissen vermittelt werden kann.. Je nach Gruppe fällt diese Ankommenszeit länger oder kürzer aus.
Bist du z. B. Lehrperson und du gehst mit deiner eigenen Klasse einmal pro Woche in den Wald. Dann haben die Kinder viel mehr Zeit zur Verfügung, sich mit dem Wald vertraut zu machen. Sie können dank der Regelmässigkeit eine echte Naturverbindung aufbauen.
Das ist übrigens auch der Grund, warum ich jede Lehrperson ermutigen möchte, den Unterricht einmal pro Woche in den Wald zu verlegen.
Wenn du hingegen freischaffende WaldpädagogIn bist und mit einer Gruppe eine einmalige Führung hast und die Teilnehmenden ansonsten nicht regelmässig in den Wald gehen, dann kannst du dir vorstellen, dass du dafür nicht viel Zeit zur Verfügung hast.
Und dennoch kannst du auch auf einer einmaligen Führung, echte Naturerlebnisse bieten.
Der Weg zur Naturverbindung: Das Flow Learning® Konzept von Joseph Cornell
Wenn wir über das Ankommen im Wald und die Gestaltung tiefgehender Naturerlebnisse sprechen, kommen wir an einer Person nicht vorbei: dem US-amerikanischen Lehrer und Begründer der modernen Naturpädagogik Joseph Cornell.
Seine Arbeit baute auf den ganzheitlichen Prinzipien von Pestalozzi auf (Lernen mit Kopf, Herz und Hand) und lieferte erstmals eine praktische pädagogische Struktur, um diese Theorie in der Natur umzusetzen. Cornell erkannte, dass die Wirksamkeit einer Waldführung direkt davon abhängt, ob die Teilnehmenden emotional und sensorisch in der Umgebung angekommen sind – also die Naturbeziehung vor dem Naturwissen steht.
Dafür entwickelte er das Konzept des Flow Learning®. Es beschreibt einen Prozess in vier Stufen, der darauf abzielt, die Teilnehmenden sanft und fast unbemerkt in einen Zustand tiefer Konzentration und Freude zu führen, in einen sogenannten Flow. Dies ist der Zustand, in dem echte, ungesteuerte Entdeckungen geschehen und Erkenntnisse am tiefsten verankert werden.
Die vier Stufen des Flow Learning®-Modells sind:
Enthusiasmus wecken (Wake Up Enthusiasm): Aktivitäten zum Auflockern und Aktivieren der Sinne, die das Eis brechen und die Aufmerksamkeit von den Alltagsgedanken weg nach draussen lenken (z.B. ein kurzes Spiel).
Konzentration fördern (Focus Attention): Ruhigere, fokussierte Übungen, die eine Brücke zur Umwelt bauen. Dies hilft der Gruppe, innerlich im Wald anzukommen, eine erste Verbindung herzustellen und die Sinne zu schärfen.
Direkte Erfahrung vertiefen (Experience Directly): Die zentrale Phase, in der die eigenständige Entdeckung und das Loslassen der Pädagog:in im Zentrum stehen. Die Teilnehmenden interagieren selbstständig und intensiv mit der Natur.
Erfahrungen teilen/Inspiration (Share Inspiration): Zum Abschluss werden die gemachten Erfahrungen reflektiert, um die emotionale Naturbeziehung zu verankern und die Erkenntnisse mit nach Hause zu nehmen.
Das Flow Learning®-Konzept kannst du in jeder Waldführung anwenden. Hier sind meine drei besten Tipps, die sich eng an Cornells Stufen orientieren und deine Naturbeziehungen stärken:
⌛ Zeit ohne Auftrag
Freie Zeit im Wald zu verbringen, lädt zum eigenständigen Entdecken ein und Erfahrungen bleiben länger verankert. Erste Scheu gegenüber des Waldes kann relativ einfach abgebaut werden, weil sich niemand blossgestellt fühlt.
Auch auf einer kurzen Führung lässt sich „Freizeit“ einbauen.
🌲 Der Baumfreund
Die Teilnehmenden suchen sich „ihren“ Baum, den sie besonders ansprechend finden. Sie verbringen einige Minuten damit, den Baum zu beobachten, die Rinde zu tasten und sich in seine Gegenwart einzufühlen. Sie können ihm auch von Sorgen oder von schönen Dingen erzählen.
Ein Baumfreund kann immer wieder besucht werden. Deswegen lohnt sich diese Übung auch auf einer einzelnen Führung. Denn die Teilnehmenden können in ihrer Freizeit immer wieder zu ihrem Baumfreund zurückkehren.
🔎 Beobachten statt erklären
Ganz ehrlich? Wenn Kinder vorher noch nie im Wald waren, ist es nicht wichtig, dass sie Buche und Eiche kennen und unterscheiden können. Anstatt Sachwissen zu vermitteln, lasse die Teilnehmenden selbst beobachten und ihre Entdeckungen z. B. in einem Naturjournal festhalten. Sie werden selbständig herausfinden, dass Borke, Blätter, Früchte ganz anders aussehen. Und gleichzeitig konnten sie so ihre Naturbeziehung stärken.

Wir erinnern uns eher weniger an den Inhalt einer Buchseite, die das Leben des Regenwurms erklärt.
Zwischen Begleiten und Loslassen: Deine Rolle als PädagogIn
Ich kann mich noch sehr gut an mein erstes Arbeitsjahr als Vorschullehrerin erinnern. Ich hatte so viele Ideen und wollte den Kindern so viel mitgeben, doch ich hatte gar nicht die Zeit dafür.
Heute plane und unterrichte ich ganz anders, als ich das noch vor 20 Jahren gemacht habe. Ich erkläre nicht mehr alles, sondern übe mich in Reduktion. Ich picke mir für eine Führung drei maximal fünf Wissenshappen heraus und nach Möglichkeit lasse ich die Teilnehmenden die Wissenshappen durch beobachten oder Erfahrungsspiele selbst herausfinden.
Der Rollenwechsel: Erklären zum Beobachten
Der Übergang vom Erklären zum Beobachten ist oft der schwierigste, aber auch der lohnendste Schritt für uns WaldpädagogInnen. Im Klassenzimmer sind wir es gewohnt, Inhalte zu vermitteln und Abläufe zu steuern. Im Wald ist dies seltener nötig und manchmal sogar kontraproduktiv.
Wenn wir uns zurücknehmen, geben wir den Kindern und Erwachsenen den Raum, den sie für echte, ungesteuerte Erfahrung brauchen. Statt vorzugeben, was entdeckt werden soll, fragen wir: Was nimmst du wahr? Wie fühlt sich das an?
Dieser Wandel bedeutet, dass wir der Natur die Chance geben, selbst zu lehren. Wir stecken lediglich den Rahmen und sorgen für Sicherheit.
Die Innere Arbeit: Festhalten oder Loslassen?
Dieser Rollenwechsel ist keine einfache Checkliste, sondern eine Haltungsfrage. Er erfordert eine ständige innere Arbeit und ein hohes Mass an pädagogischer Präsenz. Die zentrale Herausforderung liegt im Gleichgewicht zwischen zwei Polen: Wann halte ich mich zurück? Und wann gebe ich Impulse?
Hier gibt es keine allgemeingültige Regel, sondern nur deine persönliche, situative Entscheidung.
- Zurückhaltung: Wir halten uns zurück, wenn wir sehen, dass die Gruppe oder einzelne TeilnehmerInnen im Flow sind, eigenständig forschen oder in einem tiefen, stillen Moment der Naturbeziehung sind (z.B. beim Baumfreund oder im freien Spiel).
- Impulse: Wir geben Impulse, wenn wir eine Stagnation bemerken, wenn die Gruppe Unterstützung bei der Vertiefung einer Beobachtung braucht, oder wenn wir einen notwendigen Rahmen schaffen müssen. Ein Impuls kann eine offene Frage sein („Was verändert sich am Baum, wenn du deine Augen schliesst?“), das Bereitstellen eines Werkzeugs oder die Aufforderung, sich einen ruhigen Sitzplatz zu suchen.
Die Fähigkeit, diese Momente zu erspüren, wächst mit deiner Erfahrung. Vertraue deinem Gefühl.
Blick über den Tellerrand: Wildnispädagogik als Inspirationsquelle
Es gibt heute enorm viele grünpädagogische Richtungen. Je nachdem was besser zu dir oder zu deinem Arbeitsstil passt, hast du für dich den einen oder anderen Ansatz gewählt.
Ich für meinen Teil bin Waldpädagogin durch und durch. Aber dennoch lasse ich immer wieder Elemente aus der Wildnispädagogik in meine Arbeit einfliessen, weil sie die Naturbeziehung fördern.
So lasse ich z. B. die Teilnehmenden oft die Sitzplatz-Übung machen, damit sie die Umgebung im Wald bewusst wahrnehmen können. Oder ich nutze ganz bewusst den Ansatz des „Coyote Teachings“, damit ich nicht sofort zu Erklären beginne, sondern die Teilnehmenden selbst nach einer Lösung forschen können.
Denke an deine letzte Führung oder deinen letzten Waldtag und beantworte folgende Fragen für dich:
Wann habe ich mich zurückgehalten und es geschehen lassen?
Wann war ein bewusster Impuls nötig, um eine Tür zu öffnen?
Welche Lernmomente wären verloren gegangen, wenn ich mehr erklärt hätte?
Vertiefe dein Wissen und Leseempfehlungen
Wenn du dich tiefer mit der Haltung und den Methoden der Naturpädagogik beschäftigen möchtest, findest du hier weiterführende Ressourcen und Informationen zu den im Artikel genannten Konzepten und Pionieren:
Zur Vertiefung des Haltungswechsels (Loslassen und Rahmen schaffen):
🔗 Waldpädagogik, Wildnispädagogik, Naturpädagogik und co. Was ist eigentlich der Unterschied?
🔗 Pilzführung ohne Pilzwissen: Ein Selbstversuch und warum es die beste Idee war! (Praxisbeispiel)
🔗 Die Wildnispädagogik: Definition, Ziele, Geschichte und Praxis
🔗 Wie du durch das Coyote Teaching Menschen in Begeisterung versetzt
Zu Joseph Cornell und des Flow Learning Konzepts:
📕 Buch: Cornells Naturerfahrungsspiele für Kinder und Jugendliche (Werbung)
🔗 Joseph Cornells Flow Learning® (englisch)
Warum Waldpädagogik heute so wertvoll ist
Unsere Zeit ist laut, schnell und durchgetaktet. Lehrpläne sind voll. Terminkalender überquellen, unsere eigenen und auch die von den Teilnehmenden. Vor diesem Hintergrund ist Waldpädagogik kein idealisiertes Wunschbild oder ein Gegenentwurf zur Welt. Sie ist ein realistisches und tragfähiges Angebot.
Sie ist ein Ausgleich. Sie erinnert uns daran, dass Lernen nicht immer messbar sein muss, um wirksam zu sein. Und dass nicht alles, was zählt, geplant oder kontrolliert werden kann. Gerade darin liegt ihre Stärke.
Zum Schluss
Zum Schluss möchte ich dich ermutigen: Nimm dir diese Fragen mit. Nicht, um sie sofort zu beantworten, sondern um sie während deiner nächsten Waldeinheiten wachsen zu lassen:
- Was hat mich dieses Jahr im Wald besonders getragen?
- Wo durfte ich loslassen – und wo habe ich festgehalten?
- Was möchte ich im kommenden Jahr bewusster tun?
- Und was vielleicht bewusst weglassen?
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Besonders jetzt zum Jahresende lohnt es sich, einen tieferen Blick auf die eigene Arbeit zu werfen. Deswegen habe ich die Fragen aus diesem Artikel in einem kleinen kostenlosen Wald-Reflexions-Journal für dich zusammengefasst.
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Ich freue mich darauf, deine Gedanken zu diesem Thema zu hören: Was macht Waldpädagogik für dich jenseits von Methoden und Spielen wirklich aus? Teile deine Erfahrungen gerne unten in den Kommentaren ⬇️






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